Ein Konzert mit 270 Millionen Zuhörern
Letztes Jahr, im April 2020, hatte sich das Corona Virus schon auf der ganzen Welt verbreitet, und fast überall wurden Ausgangsbeschränkungen erlassen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. An Konzerte war nicht zu denken.
Oder doch?
Am 18 April wurde ein 5 Stunden Konzert von YouTube weltweit mittels streaming übertragen, mit Dutzenden Künstlern, die von daheim aus ihre Musik gespielt und gesungen haben – mehr dazu auf Wikipedia https://en.wikipedia.org/wiki/Together_at_Home
Das Konzert hat weltweit 270 Millionen Menschen erreicht (Quelle: CSRWire), ich war einer davon.
Country Music ganz neu
Von all den Künstlern habe ich so wenige gekannt, dass ich ein kleines Projekt gestartet habe: ein Kennenlernen der Musik, die in den letzten 20 Jahren entstanden ist. Vieles war für mich nicht sehr interessant, aber ein Genre hat mich fasziniert: Country.
Das war im 20. Jahrhundert eine Musik der weissen Männer, gern mit Cowboyhut und Schnurrbart. Die Themen oft „Cowboy“ lastig, die Darbietung solo mit Gitarre. Ich hab diese Musik auch gern gesungen und gespielt. Lieder von Kris Kristofferson zum Beispiel. Da waren bereits ganz und gar nicht typische Country Texte dabei, aber eben gut versteckt in traditionellen Arrangements.
Und dann kam die grosse Umwälzung: eine völlig neue Generation von Künstlern, viele Frauen dabei. Starke Texte, moderne Geschichten und vor allem in der Video-Darbietung sehr professionelle und spannende Filme zu den einzelnen songs. Die Grenze zur Popmusik ist hier ziemlich durchlässig geworden.
Genug Theorie, jetzt wollen wir was hören!
Was jetzt folgt ist ein genussvoller Spaziergang nicht nur durch die Country Music des 21. Jahrhunderts, sondern auch ein Blick darauf, was für früher ungeahnte Möglichkeiten Künstler heute haben um ein Millionenpublikum zu erreichen. Und das mit nicht viel mehr als einer Kamera und einem guten Tontechniker.
Bis letztes Jahr noch Lady Antebellum. Einer ihrer grössten Hits war dieser:
„Need you now“ – https://www.youtube.com/watch?v=PMootRNTC-A
Eine simple Geschichte – zwei, die sich getrennt haben sind eigentlich immer noch in einander verliebt. Was mir an Lady A besonders gefällt ist wie extrem gut die beiden lead singers harmonieren – die Stimmen passen wirklich gut zusammen!
Hier ein Lied, das ich ganz besonders mag: „what I’m leaving for“.
https://www.youtube.com/watch?v=vgtyzSe7cxM
Da erwartet man irgendwie, das sie ihn verlässt, Drama, Tragödie.
Erst beim Refrain – immerhin nach mehr als einer Minute – kommt man drauf, hey da singt sie über ihr Leben als Künstlerin, mit Kindern. Und wie es jedesmal wehtut, wenn sie die Kinder zurücklassen muss, weil sie ein Konzert spielt. Und die Titelzeile „What I’m Leaving For“ liest sich nun so: „und jedesmal wenn ich die Tür zumache und weggehe, dann weisst DU (ihr Mann), warum ich gehe“.
Das ist so ein moderner Text, das gefällt mir total. Es ist auch echt.
Es spricht nicht Klischees an, sondern reales Leben.
So stark hat sich die Country music verändert, und so erfreulich anhörbar ist sie geworden
Ganz andere band, aber wie Lady A sehr auf die Stimmen und ihre Harmonien ausgerichtet: Little Big Town. Aber nicht nur die Stimmen sind gut, auch die Texte. Zum Beispiel das hier: „Better Man“
https://www.youtube.com/watch?v=ph9NQ8ASmX4
Sie erinnert sich an die gemeinsame Zeit, sie sehnt sich danach, das wieder zu haben nur … „wenn du doch ein besserer Mann wärst“. Ich glaube, das trifft die Situation so vieler Frauen, manche davon getrennt, viele noch mit ihm zusammen. Wie schön wäre es doch … wenn sie es mit ihm nur aushalten könnte.
Jetzt eines der videos, die eigentlich ein richtiger Film sind. Die Geschichte wird sowohl durch Bilder erzählt als auch durch den Liedtext. Sie kommt und ist unaufhaltsam, es reicht jetzt …
„I’m a tornado
Looking for a soul to take
You’re gonna see me coming by the selfish things that you did
I’m gonna leave you guessin‘ how this funnel is gonna hit
I’m a tornado, looking for a man to break
Yeah I’m gonna lift this house, spin it all around
Toss it the air and put in the ground
Make sure you’re never found“
Das Lied heisst nicht umsonst Tornado
https://www.youtube.com/watch?v=iaEmQJG2HHU
So brutale Texte hätte eine Frau vor 15, 20 Jahren einfach nicht singen dürfen …
Als Kontrastprogramm gewissermassen, „Sugar Coat“ von Little Big Town.
https://www.youtube.com/watch?v=MNdg0K2h_UE , Zuckerguss.
Die Frau die immer lächeln muss, egal was vor sich geht, die typische Frau des mittleren 20. Jahrhunderts. Aber es gibt sie natürlich immer noch. Viele.
Immer ein lächelndes Gesicht, auch wenn es innerlich kocht. Dass sie am Ende doch nicht mehr alles schluckt, ist bei dieser band eigentlich zu erwarten.
Jetzt etwas ganz anderes.
Faith Hill singt dieses Lied hier im Konzert (das offizielle video ist zu „süss“ für meinen Geschmack), und bei ihr ist es die ungeheure Energie, die diese Frau beim singen hat und auch auf die Zuhörer überträgt.
Das Lied ist knapp vor 2000 entstanden, also eher am Anfang der grossen Veränderung der Country Music. Relativ konventioneller Text, aber ihre Stimme und wie sie beim refrain die „Sau rauslässt“, das ist sensationell
https://www.youtube.com/watch?v=dB6uMXH3-2g
Und noch eine der ganz grossen Country Sängerinnen: Carrie Underwood. In diesem Lied „bevor er mich betrügt“ geht es – ähnlich wie in „Tornado“ – ordentlich zur Sache. „Er“ ist ein ganz normaler Amerikaner.
Mit fettem Auto und fettem Ego. Und dann …
„I dug my key into the side of his pretty little souped-up four-wheel drive
Carved my name into his leather seats
I took a Louisville slugger to both headlights
I slashed a hole in all four tires
Maybe next time he’ll think before he cheats“
https://www.youtube.com/watch?v=WaSy8yy-mr8
… am Ende singt sie dann: „vielleicht hab ich dem nächsten Mädel ein bisschen Ärger erspart, weil eines ist sicher: das nächste Mal … betrügt er nicht mich!“.
das sind doch so coole Texte. Und sie hat auch eine gewaltige Stimme und Energie. Mir gefällt das total.
Aber das ist ja gar keine „richtige“ Musik!
Zehnmal lieber auf youtube so geniale Musik anhören und -sehen als mich in ein dummes Opernhaus setzen, mit 200 anderen betuchten Abonnenten, und zum x-ten mal eine Oper zu sehen, die vor 150 Jahren geschrieben wurde und von ihrer Handlung genau so irrelevant ist.
Adelige Tochter kriegt ein Kind – igittigitt. Graf vögelt alle Frauen seines Schlosses, Siegfried tötet einen Drachen, … wie kann jemand im 21 Jahrhundert das wieder und wieder ertragen ohne schon total abgestumpft zu sein?
Ich werde es nicht mehr erleben, aber ich glaube dass in den nächsten 10-20 Jahren eine gewaltige Revolution die sogenannte „Kultur“ Szene total umkrempeln wird. Die Jungen werden es sich einfach nicht mehr gefallen lassen, mit ihren Steuergeldern das blutleere und luftleere Privatvergnügen der Oberschicht zu finanzieren, die – das ist ja die grösste Ironie – nicht einmal mehr die Musik geniessen, sondern nur hingehen weil das eben „dazugehört“ und während der Aufführung genussvoll schlafen.
Ich hoffe, Covid hat einen Beitrag geleistet, dass dieser antiquierte Kulturbegriff endlich in die Mülltonne getreten wird.
Und damit komme ich – nach Dampf ablassen – zur Alternative.
Musik im Netz. Ja, ich meine youtube.
Stell dir vor, dort ist es möglich, ohne Produzenten, Plattenfirmen, Showbetrieb, Konzerte … also ohne all das wo heute die „Kultur“ schreit, dass sie nichts mehr arbeiten können … es ist möglich, GANZ ALLEIN, nur mit KÖNNEN und ein wenig Technik Aufnahmen zu erzeugen, die einem den Atem rauben.
Peter Hollens ist einer von ihnen. Ein Mann, eine Stimme. Und weltweit „with over 5 million followers and subscribers, his content has received over a billion total views since 2011“.
Wenn er singt dann kann er viele Stimmen singen. Das ist total schwer, ich und die meisten schaffen es nur, in genau einer Tonlage gut zu singen – „Tenor“ oder „Bariton“ oder „Bass“.
Zum Einstimmen hier ein weltweit bekanntes Kirchenlied, „Amazing Grace“, gemeinsam mit der Gruppe Home Free. Das Lied ist a capella, das heisst ohne Orchester. Jedes „boom“, „click“ und alle Instrumente werden durch menschliche Stimmen gesungen. Atemberaubend.
https://www.youtube.com/watch?v=7n145-J8ejg
Peter Hollens singt nicht nur „Klassik“, sondern zum Beispiel, wie hier https://www.youtube.com/watch?v=17svtURunUk
die Titelmusik zu dem Computerspiel „Civilization IV“. Der Text ist die Zulu Version des Vaterunser, und im Spiel wird das Lied auch von einem Südafrikanischen Chor gesungen. Dass Peter Hollens und Malukah das ganz allein derart gut bringen können, zeigt, wie sinnlos die Verteidigungshaltung der „Kultur“ Verantwortlichen ist: ausser uns gibt es keine Kultur.
Was soll das denn sonst sein?
Noch einmal Peter Hollens, diesmal mit Lindsey Stirling:
eine Stimme, eine Violine.
Das Titellied von „Skyrim“, eines meiner liebsten Computerspiele.
https://www.youtube.com/watch?v=BSLPH9d-jsI
Ich habe hunderte Stunden darin verbracht, Abenteuer erlebt, Drachen bekämpft – zuletzt seit Ende 2019 in virtual reality, wo die Drachen nicht auf dem Bildschirm 30cm gross vor dir stehen, sondern in 3D, unglaublich real, 2 Meter vor dir und in voller Grösse – 5 Meter gross – eine Tatze des Drachen ist so gross wie du, und im Gegensatz zu den Monstern im normalen Computerspiel, die niemals aus dem Bildschirm heraus hüpfen – steht der Drache vor dir, nichts dazwischen, das ist unglaublich!
Aber zurück zur Musik: ich glaube fest, dass Filmmusik und Computerspiele die klassischen Opern total abgelöst haben. Und es ist gut so.
Über Lindsey Stirling bin ich zu dieser band gekommen:
Da sind wir jetzt schon ziemlich weit weg von der Country Music. Eine a capella band aus 5 Mitgliedern, und wieder ist jede Note die man hört durch eine menschliche Stimme erzeugt.
Hier ihre Version des Mega-Hits von Queen „Bohemian Rhapsody“. Die Geschichte, wo der Bub aus dem Slum sagt „Mama, ich hab gerade einen Mann umgebracht. Hab ihm die Pistole an die Schläfe gesetzt und abgedrückt. Wenn ich morgen früh nicht zu Hause bin, weisst du warum“.
https://www.youtube.com/watch?v=ojRj2JK5oCI
Die singen viele unterschiedliche Lieder, zum Beispiel hier die Pentatonix Version von John Lennon’s „Imagine“. Schon die ganz neue Interpretation des Liedes ist sehens- und hörenswert. Aber wie sie am Ende „diversity“ so echt in real life darstellen, das ist extrem kreativ. Kein erhobener Zeigefinger, einfach – menschlich. Und .. mit einem unglaublich komplexen Arrangement der Stimmen.
https://www.youtube.com/watch?v=NLiWFUDJ95I
Zum guten Schuss kehren wir wieder zur Country Music zurück. Zu einer der grössten Künstlerinnen in dem Fach
Ja ich weiss, ich hab sie auch immer eher belächelt. Aber es hilft, wenn du dir die Wikipedia Seite über sie durchliest: aus extrem einfachen Verhältnissen durchgekämpft bis nach Nashville, dem Zentrum der Country Music.
Über 3000 Lieder komponiert, Welterfolge mit ihren eigenen Aufnahmen, und gleichzeitig erfolgreich mit ihren wirtschaftlichen Unternehmungen. Ich bewundere sie total!
Dieses Lied ist eines ihrer grössten Hits: Jolene
https://www.youtube.com/watch?v=oYCoyUxY2HY
Hier gesungen gemeinsam mit den Pentatonics. Am Anfang habe ich gesagt, im vorigen Jahrhundert war Country noch sehr traditionell. In diesem Lied ist der Text ziemlich modern. Eine Frau spricht die jüngere an:
„Jolene, ich weiss dass du jünger und schöner bist als ich. Und du könntest meinen Mann jederzeit haben wenn du willst. Nur bitte, tu es nicht – für dich ist es ein Spiel, aber es würde unser Leben zerstören“
Und das im Jahr 1973!!! Relevant wie eh und je.
Übrigens gibt es auf Netflix eine Serie „Dolly Parton’s Heartstrings“ und die erste Folge ist eine filmische Aufarbeitung dieses songs. SEHR gut gemacht, und auch das Ende wirklich gut. Absolut empfehlenswert.
https://www.netflix.com/at-en/title/80244846
Nach Dolly Parton, der „queen mother“ des Country, die heute mit 75 immer noch gut singt, führt kein Weg vorbei an
Geboren Ende 1989, ist sie heute mit 31 bereits eine der einflussreichsten singer songwriters. Nicht nur mit eigenen Aufnahmen sondern auch mit den Liedern, die sie für andere geschrieben hat, wie z.B. das Lied „Better Man“, das ich euch oben vorgestellt habe.
Dies ist ein Lied über Gefühle – die emotionale Achterbahn mit „fifteen“:
https://www.youtube.com/watch?v=Pb-K2tXWK4w
Und dieses Lied so etwas wie das Gegenteil davon. Viel wilder, auch musikalisch – Frauen, die alles zertrümmern was ihnen in den Weg kommt. Einfach so.
„Bad Blood“ https://www.youtube.com/watch?v=QcIy9NiNbmo
Zum Abschluss „Take Me Home, Country Roads“, der „Country-Song des 20.Jahrhunderts“, von John Denver, ganz neu interpretiert. Hier treffen sich 30 Solo-Künster und bands, um das Lied gemeinsam zu singen – dann wird ein weiterer song hinein verarbeitet, und am Schluss „I Will Always Love You“, geschrieben übrigens von Dolly Parton.
https://www.youtube.com/watch?v=s9gAXwYZtfk
Damit verabschiede ich mich aus der Sendung „Helmut’s Welt des Country“, die sich nicht nur auf Country beschränken hat lassen. But who cares. Good music is good music, whatever the style.
Ich wünsche euch viele schöne Minuten mit der Musik des 21.Jahrhunderts, ins Wohnzimmer gebracht von Youtube, Spotify, Netflix, Amazon und all den anderen.